Unterwegs sein

Den Globus überzieht eine Landkarte "heiliger Orte". Die Landkarte dieser "heiligen Orte" umfasst nicht nur christliche Stätten: Sie bildet die Oikumene (den bewohnten Erdkreis) aller Religionen ab. Zu diesen Orten zählen Jerusalem und Rom, Santiago de Compostela in Spanien und der Croagh Patrick auf Irland, die Marienheiligtümer von Guadalupe (Mexiko), Lourdes (Frankreich) und Fatima (Portugal), die Kaaba in Mekka (Saudi-Arabien), die "Mutter Ganges" in Indien und die heilige Stadt Lhasa in Tibet, die chinesischen Berge von Guilin und der Ashi-See zu Füßen des japanischen Fujisan und auch Assisi, die Stadt des "Gaukler Gottes", des heiligen Franziskus.

"Heilige Orte" sind für Gläubige mehr als touristische Reiseziele: Sie sind Landmarken, die von einer Erfahrung sprechen - unterwegs zu sein. Aus dem zwölften Jahrhundert ist die Erzählung des Rabbi Petachja ben Jakob von Regensburg von seiner Pilgerreise nach Israel überliefert. Sein Bericht, in der dritten Person geschrieben, lässt seine Reise in Prag beginnen. Die Erzählung endet in Mamre im Heiligen Land:

"Bei den Terebinthen von Mamre saß gewöhnlich ein alter Mann, und als Rabbi Petachja dorthin gekommen war, lag er im Sterben."
Der Alte lässt den Besucher alle wundersamen Dinge sehen, die an den Stammvater Abraham erinnern, und sagt, um den Reisenden von der Zuverlässigkeit seiner Erklärungen zu überzeugen: "Siehe, ich gehe ein in die kommende Welt, ich lüge nicht." Im Angesicht der bevorstehenden letzten Reise wird jede Lüge überflüssig und die Wahrheit ist Gast.

Pilgergeschichten gehören in eine Welt, deren Zeittakt nicht durch den Mausklick im Internet oder das Zappen mit der Fernbedienung vorgegeben ist. Dem mittelalterlichen Reisenden Rabbi Petachja wird ein Baum gezeigt, in dessen Schatten Gott zu Gast bei Abraham gewesen sein soll. In seiner Reiseerzählung heißt es:

"Da zeigte er ihm einen schönen Ölbaum, der in drei Teile gespalten war und einen Marmortisch in der Mitte hatte. Eine Überlieferung haben sie dort, die besagt: Als die Engel sich gesetzt hatten, sei der Baum in drei Teile gespalten, und jeder der drei Engel habe sich an einen Teil des Stammes gelehnt. Und sie haben um den Tisch herum gegessen. Die Früchte des Baumes sind sehr süß."
Pilgergeschichten wecken die Sehnsucht nach einem Ort, zu dem man immer nur unterwegs sein kann. Wo Gott an einem Baumstamm lehnt und Ölbäume süße Früchte tragen.

Pilgergeschichten gehören in eine Welt, in der zwischen Aufbruch und Ankunft mehr liegt als die Schalterhallen von Flughäfen: der Weg - mit seinen Stationen und Gefahren.

"Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde" (Hebr 11,8).
Das ist das Ziel von Pilgerreisen, zu welchem "heiligen Ort" auch immer sie führen: Sie vermitteln den Gläubigen, was der Reisende vom Menschenleben erfährt - unterwegs zu sein. Nach den Erzählungen der Bibel eine, die wesentliche Erfahrung. Von Abraham und Sara bis heute. "Im Geist des Gebetes sich auf den Weg machen von einem Ort zu einem anderen, von einer Stadt in eine andere, hilft uns nicht nur, unser Leben als eine Reise zu leben, sondern gibt uns einen lebendigen Sinn für einen Gott, der uns vorausgeht und leitet, der sich selbst auf den Weg des Menschen macht, ein Gott, der nicht auf uns aus seinen Höhen herabschaut, sondern der unser Reisegefährte geworden ist." (Johannes Paul II.).


Die Zitate sind entnommen aus "Die Reise des Rabbi Petachja ben Ja'aqov aus Regensburg", in: Benjamin von Tuleda/Petachja von Regensburg, Jüdische Reisen im Mittelalter. Aus dem Hebräischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Stefan Schreiner (Sammlung Dieterich 416), Leipzig 1991.

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