Pfingsten: Der Kosmos. Ursprung

 

Im Ursprung schuf Gott die Himmel und das Land.
Das Land aber war Irrsal und Wirrsal.
Finsternis über Urwirbels Antlitz.
 
Geist Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.
Gott sprach: Licht werde! Licht ward.

 

Bereschit (Genesis) 1,1-3

 


 

Die ersten Zeilen der Bibel versetzen uns in die "Zeit vor der Zeit".

Sie handeln vom "Ursprung" im doppelten Sinn:

  • von dem, was war, bevor alles war (Ursprung als Beginn), und
  • von dem, was alles, was ist, zu dem macht, was es ist (Ursprung als Wesen).

Im Gegensatz zu Schöpfungsvorstellungen der Umwelt Israels, nach denen die Elemente des Kosmos "Gottheiten" sind und durch göttliche Zeugungen entstanden, lehrt der biblische Glaube, dass alle erfahrbare Wirklichkeit - Dinge, Pflanzen, Tiere und Menschen -, ja alle Wirklichkeit überhaupt ("die sichtbare und die unsichtbare Welt", wie es im Glaubensbekenntnis der Kirche später heißen wird) durch Gottes Wort entstanden sind.

Auskunft über den Ursprung als Beginn erteilen die ersten Zeilen der Bibel nur in dem einen, dem wesentlichen Punkt: Gott ist nicht Teil dieser Welt und nicht ihre Summe, Gott steht der Welt frei gegenüber und schafft sie als Partner eines Dialogs, dessen erstes Wort Gott spricht. Die Zeit der Physik und die Zeit der Menschen: Sie entstehen erst durch dieses Wort - sie selbst wissen nichts von einem "Vorher".

Die biblische Botschaft von der Erschaffung der Welt durch das göttliche Wort unterscheidet Schöpfer und Schöpfung. Sie kennt kein gemeinsames Dach eines "Weltsystems", das Gott und Welt umgreift. Für sie ist "Gott" kein mythologischer Deckname für kosmische Kräfte.

Das erste Wort der biblischen Schrift beginnt mit dem Buchstaben "Beth", dem zweiten des hebräischen Alphabets: Bereschit Bara Elohim Im Ursprung schuf Gott.

 
   
  Der Buchstabe Beth ist wie eine zum Anfang hin (Hebräisch wird von rechts nach links geschrieben) geschlossene Klammer: ein "Haus", unter dessen Dach das Leben beginnt. Die Erfahrung der Schöpfung verweist auf den Schöpfer und lässt ihn doch im verborgenen. Es ist die Erfahrung des Schweigens, in das das "Wort" des Schöpfergottes gesprochen wird.  
   
  Erst das Zehnwort am Sinai, in dem Gott aus dem Feuer zu Israel spricht, beginnt mit "Aleph", dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets: Ani Adonai Elohecha Ich bin Ich-bin-da dein Gott. Das Schweigen der Schöpfung ist vom Ursprung her bereitet, damit dieses Wort gehört werden kann.

Wie kann Gottes Wort gehört werden? "Gottes Geist schwingend über dem Antlitz der Wasser": Die ersten Zeilen der Bibel sprechen von einer Anwesenheit des verborgen-sprechenden Schöpfers im "Haus" der Welt: Als das Land noch "Irrsal und Wirrsal", die Wasser noch "Urwirbel", bevor in dieser Schöpfung mit der Entstehung der Menschen eine Kreatur hervorgeht, die sich selbst und die Welt "ins Wort" bringt - schwingt "ein Braus Gottes" in dieser gestaltlosen Welt.

Der Glaube bekennt Gott jenseits der sichtbaren und unsichtbaren Welt: Kann Gott so gehört werden, dass die Wirklichkeit nicht nur als schweigend-verbergender Nachhall seines urprünglichen Wortes erfahren wird? Wer leiht dem "Nichts" Ohren, Gottes "Wort" zu hören? Die biblische Auskunft über den Ursprung ist mehr als eine über den unvordenklichen "Anfang", das Jenseits unserer Zeit. Sie ist Auskunft über das Wesen der Wirklichkeit. Die Schöpfung nimmt den Dialog mit ihrem Schöpfer auf, sie findet in der Kreatur namens "Mensch" ein Wort und richtet es an Gott, weil in den Herzen der Menschen jener Geist zur Stimme kommt, von dem die ersten Zeilen der Bibel bezeugen, dass er an ihrem Ursprung schwingt.

Am Ursprung des Kosmos: Pfingsten!
 

 


© Ulrich Sander 2002