Der Erwachte



In eine Nacht des Jahres 528 vor Christus fällt das "Erwachen" des Siddharta Gautama, des fünfunddreißigjährigen Sohnes des Herrschers von Kapilavatthu (Indien), zum "Buddha". Die buddhistische Tradition datiert diese Heilige Nacht verschieden: zum einen in die Nacht des Frühlingsvollmonds, zum anderen in die Nacht des 8. Dezember.
Durch schmerzvolle Selbstkasteiung erreichte ich nicht das höchste übermenschliche Wissen und Schauen. Da fragte ich mich, ob es einen anderen Weg zur Erleuchtung gäbe.

Und ich erinnerte mich daran, daß ich einst bei meinem Vater im kühlen Schatten eines Rosenapfelbaums, losgelöst von Begierden und dharmas (Daseinsbestimmungen), die erste Versenkung erreichte.

Da kam mir zum Bewußtsein: Dies ist der Weg der Erleuchtung.
Und ich erkannte, daß es nicht möglich sei, das Glück der Versenkung mit einem so abgemagerten Leibe zu erreichen.

Als ich nun wieder zu Kräften gekommen war, da verwirklichte ich die vier Versenkungen.
Als mein Denken gesammelt, geläutert, weich und leicht zu bearbeiten geworden war, richtete ich es auf die erinnernde Erkenntnis meiner früheren Existenzen. Ich erinnerte mich an eine, an zwei . . . schließlich an hundertausend meiner Vorgeburten, an viele Perioden der Weltzerstörung und Weltentfaltung.
Dieses war das erste Wissen, das ich in der ersten Nachtwache erreichte.

Und ich richtete dann das Denken auf die Erkenntnis des Abscheidens und Wiederentstehens der Wesen. Mit göttlichem Auge sah ich, wie die Wesen sterben und wieder geboren werden, hohe und niedere, schöne und häßliche, glückliche und unglückliche.
Diese war das zweiteWissen, das ich in der mittleren Nachtwache erreichte.

Und ich richtete mein Denken auf die Erkenntnis der Vernichtung der schlechten Einflüsse - Sinnenlust, Werde-Lust, Nicht-Wissen:

erkannte ich der Wahrheit gemäß.

erkannte ich der Wahrheit gemäß.

Als ich so erkannte und schaute, wurde mein Denken erlöst von den Einflüssen der Sinnenlust, des Werdens und des Nicht-Wissens, und es entstand die Erkenntnis:

In dem Erlösten ist die Erlösung. Aufgehoben ist die Wiedergeburt, vollendet der heilige Wandel, getan ist, was zu tun war, nach diesem Leben gibt es kein anderes.

So erkannte ich. Dieses war das dritte Wissen, das ich in der letzten Nachtwache erreichte.

Majjhima-Nikaya


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