Für wen gehst du?



Im achtzehnten Jahrhundert trat unter den osteuropäischen Juden Rabbi Israel, genannt Baal Schem Tow, der "Meister des Göttlichen Namens", auf. Von ihm aus erfaßte die Überlieferung der jüdischen Mystik in einer neuen Ausprägung als Glaube des einfachen Volkes die jüdischen Gemeinden. Das oberste aller Gebote ist die Mizwa schel simcha, das Gebot der Freude an Gott (Psalm 100,2).
Der Baal Schem wurde zur Gründergestalt der Bewegung der Chassiden ("Frommen"). Unter den Rabbinen des Chassidismus finden sich ungewöhnliche geistliche Meister.
Zum Kosnitzer Rebbe kam einst ein reicher Mann.
"Was pflegst du zu essen?" fragte der Maggid (="Prediger"). "Ich führe mich bescheiden", sagte der reiche Mann. "Brot mit Salz und ein Trunk Wasser sind mir genug."
"Was fällt Euch ein!" schalt ihn der Maggid. "Braten sollt Ihr essen und Met sollt Ihr trinken wie alle reichen Leute!" Und er ließ den Mann nicht gehen, bis er ihm versprochen hatte, es fortan so zu halten.
Nachher fragten die Anhänger des Rabbi nach dem Grund der wunderlichen Rede.
"Erst wenn er Fleisch ißt", antwortete er, "wird er wissen, daß der Arme Brot braucht. Solang er Brot ißt, meint er, der Arme könne Steine essen."

In Robschitz, der Stadt des Rabbi Naftali, pflegten die Reichen, deren Häuser einsam oder am Ende des Ortes lagen, Leute zu dingen, die nachts über ihren Besitz wachen sollten.
Als Rabbi Naftali sich eines Abends spät am Rande des Waldes erging, der die Stadt säumte, begegnete er solch einem auf und nieder wandelnden Wächter.
"Für wen gehst du?" fragte er ihn. Der gab Bescheid, fügte aber die Gegenfrage daran:
"Und Ihr, für wen geht Ihr, Rabbi?"
Das Wort traf den heiligen Mann wie ein Pfeil.
"Noch gehe ich für niemand", brachte er mühsam hervor, dann schritt er lange Zeit schweigend neben dem Mann auf und nieder. "Willst du mein Diener werden?" fragte er endlich. "Das will ich gern", antwortete jener, "aber was habe ich zu tun?"
"Mich zu erinnern", sagte Rabbi Naftali.

nach den chassidischen Geschichten Martin Bubers


© Ulrich Sander, Frankfurt am Main 2000